Kernstadtentlastungsstraße in Riedlingen [Beitrag Nr. 9]

Die Kernstadt Riedlingen kann nicht in dem Maße entlastet werden, dass 9 Mio. Euro Fördermittel gerechtfertigt sind. Verkehrlich dringend notwendig ist nur der geplante Bauabschnitt, mit dem der höhengleiche Bahnübergang beseitigt werden soll. Er ist planerisch zu optimieren und damit kostengünstiger zu verwirklichen.

1 Ausgangspunkt

Die Stadt Riedlingen plant den Bau einer Umgehungsstraße, um die Kernstadt zu entlasten (Kernstadtentlastungsstraße). Die Finanzkontrolle hat den verkehrlichen Bedarf des Vorhabens geprüft.

Das Stadtgebiet wird über die Bundesstraßen B 311 und B 312 sowie die Landesstraßen L 275 und L 277 erreicht. Die neue Umgehungsstraße soll die Kernstadt an die Bundesstraße B 311 anbinden. Das Regierungspräsidium Tübingen nahm dieses Bauvorhaben 2007 in das Förderprogramm Kommunaler Straßenbau auf. Es hielt das Vorhaben für förderfähig, da das innerstädtische Hauptverkehrsnetz erheblich entlasten werden soll.

Die Bauausgaben sind mit 18 Mio. Euro veranschlagt. Das entspricht 5,3 Mio. Euro je Kilometer Straße. Die Landeszuwendung beträgt 9 Mio. Euro. Bund und Deutsche Bahn AG übernehmen für die Beseitigung des höhengleichen Bahnübergangs 5 Mio. Euro. Die Stadt Riedlingen wird demnach 4 Mio. Euro als Eigenanteil tragen.

Das Vorhaben ist in drei Bauabschnitte aufgeteilt (siehe nachfolgende Abbildung). Für sie liegen noch keine Planfeststellungsbeschlüsse vor:

  • Bauabschnitt I: Beseitigung des höhengleichen Bahnübergangs, der ein Nadelöhr für Fahrten in und aus der Kernstadt darstellt. Die Bauausgaben liegen bei 7,5 Mio. Euro.
  • Bauabschnitt II: Einmündung in die Landesstraße 277 bis Anschluss Tuchplatz mit Bauausgaben von 3,9 Mio. Euro.
  • Bauabschnitt III: Anschluss Tuchplatz bis Anschluss Römerstraße; dieser Bauabschnitt führt durch ein Flora-Fauna-Habitat-Gebiet. Die Bauausgaben betragen 6,6 Mio. Euro.

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2 Bevölkerungs-, Arbeitsplatz- und Mobilitätsentwicklung

Strukturdaten sind wichtige Einflussgrößen für die zu prognostizierende Verkehrsentwicklung. Nach dem Verkehrsgutachten 2006/2007 wird die Bevölkerung im Untersuchungsgebiet von 2006 bis 2020 um 1.700 Personen wachsen und die Arbeitsplätze werden um 1.500 zunehmen (siehe Tabelle 1).

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Nach Angaben des Statistischen Landesamtes ging die Bevölkerung von Riedlingen seit 2006 zurück. Von 2005 bis 2025 prognostiziert das Landesamt für Riedlingen ohne Bevölkerungswanderungen eine Abnahme der Bevölkerung um 2,9 %, mit Bevölkerungswanderungen eine Zunahme um 6,2 %. Selbst dann wird der im Gutachten 2006/2007 angenommene Bevölkerungsanstieg bei weitem nicht erreicht.

Ebenfalls rückläufig war nach den Daten des Statistischen Landesamts die Zahl der Arbeitsplätze, genauer: die Zahl der „sozialversicherungspflichtig Beschäftigten am Arbeitsort“. Sie fiel von 2003 bis 2007 um 6 % auf 3.530 Arbeitsplätze. Der im Verkehrsgutachten 2006/2007 prognostizierte Anstieg der Arbeitsplätze um 1.500 oder 45 % bis 2020 ist nicht zu erwarten.

Die Mobilitätsentwicklung von 2006 bis 2020 wird demnach deutlich geringer ausfallen als im Gutachten angenommen. Daran werden wegen des demografischen Wandels weder Schulen und Dienstleistungseinrichtungen in der Kernstadt noch das Einzelhandelskonzept der Stadt etwas ändern.

3 Prognostizierte verkehrliche Entwicklung

In den Verkehrsgutachten wurde prognostiziert, wie stark die Kernstadt belastet sein wird und in welchem Umfang die neue Umgehungsstraße entlastend wirken kann. Hierzu wurde das Verkehrsaufkommen in einem interaktiven Gesamtverkehrsmodell anhand einer Verkehrsnachfragematrix auf das Straßennetz umgelegt. Mit diesem Modell können die Verkehrsbelastungen der verschiedenen Planungsalternativen und Wechselwirkungen im Straßennetz beurteilt werden.

Das Gutachten 2006/2007 nimmt an, dass bis 2020 der Durchgangsverkehr um 33 %, der Quell- und Zielverkehr um 21 % ansteigen werde. Diese Werte liegen weit über anderen Prognosen. Ein Forschungsprojekt des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung geht davon aus, dass der motorisierte Individualverkehr von 2004 bis 2025 bundesweit um 9 % steigt (siehe Tabelle 2).

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Real stieg die durchschnittliche tägliche Verkehrsstärke auf Kreisstraßen in Baden-Württemberg zwischen 2001 und 2007 nach Angaben des Statistischen Landesamts um 2,0 %. Auch die Straßenbauverwaltung stellte 2002 bei Zählungen in einer der Zugangsstraßen zur Kernstadt Riedlingen fest, dass das Verkehrsaufkommen hinter den Prognosewerten zurückblieb.

Die Finanzkontrolle stellt aufgrund einer Plausibilitätskontrolle Folgendes fest:

  • Gesamtverkehrsaufkommen

Das Verkehrsaufkommen der nach und von Riedlingen führenden Straßen ist rechnerisch zutreffend dargestellt. Allerdings wirkt nur etwa ein Viertel dieses Verkehrs direkt auf das Verkehrsgeschehen in der Kernstadt ein.

  • Durchgangsverkehr

Nach Auswertung des Gutachtens 1999/2000 fuhr nur ein Viertel der Kraftfahrzeuge durch die Kernstadt. Der übrige Durchgangsverkehr bewegte sich auf den Bundesstraßen B 311 und B 312. Die Daten des Gutachtens 2006/2007 erlauben solche Auswertungen nicht. Die Verteilung des Durchgangsverkehrs von 13.450 Kfz je 24 Stunden dürfte aber im Vergleich mit den Zahlen des Gutachtens 1999/2000 unverändert sein.

  • Quell- und Zielverkehr

Das Gutachten 1999/2000 gibt einen Quellverkehr von 11.250 Kfz je 24 Stunden an. Dies sind Verkehrsbeziehungen mit Start innerhalb und Ziel außerhalb von Riedlingen. Der Zielverkehr wurde in den Verkehrsgutachten aufgrund von Gesetzmäßigkeiten im Tagesverkehrsaufkommen dem erfassten Quellverkehr gleichgesetzt. Vom Quellverkehr kommen nur 7.000 Kfz je 24 Stunden aus der Kernstadt, der übrige Quellverkehr berührt das Untersuchungsgebiet überhaupt nicht. Das neuere Gutachten 2006/2007 macht dazu keine Aussagen.

Die in den Verkehrsgutachten zu hoch angesetzten Verkehrs- und Strukturdaten führen zu prognostizierten Verkehrszunahmen für die Kernstadt, die weit über dem sonstigen Trend liegen. Sie sind weder durch räumliche noch durch demografische, verkehrliche oder andere Besonderheiten Riedlingens zu erklären.

4 Entlastungswirkung der geplanten Straße

Nach dem Gutachten 2006/2007 könnte die neue Umgehungsstraße die Kernstadt zum Prognosezeitpunkt 2020 um 7.180 Kfz je 24 Stunden entlasten.

Der Rechnungshof hat in einer vereinfachten Verkehrsumlegung die Plausibilität der Entlastungswirkung geprüft. Dabei wurde von den sich schwächer entwickelnden Bevölkerungs-, Arbeitsplatz- und Mobilitätszahlen sowie dem geringeren Verkehrsaufkommen der Kernstadt ausgegangen. Ferner wurde einbezogen, dass die neue Umgehungsstraße vorrangig Verkehrsströme der L 277 und teilweise der L 275 aufnehmen würde. Verkehr der B 311 sowie der B 312 ist für die Kernstadt nicht relevant - zumal sich die Stadt mit Wohn- und Gewerbegebieten in nord-östlicher Richtung entwickelt.

Die Verkehrsgutachten gehen von einer zu hohen Entlastungswirkung der Umgehungsstraße für den Quell- und Zielverkehr sowie den Binnenverkehr der Kernstadt aus. Abweichend von den Angaben in den Gutachten berücksichtigt die Plausibilitätsprüfung des Rechnungshofs die geringere Entlastung. Allein beim Quell- und Zielverkehr der nördlichen Stadtgebiete von Riedlingen (mit Krankenhaus, Berufsschule, nördlicher Hindenburgstraße) ist die Entlastung jeweils um 1.400 Kfz je 24 Stunden geringer als angenommen.

Die neue Umgehungsstraße wird die Kernstadt nach den Berechnungen des Rechnungshofs 2020 nur um 3.448 Kfz je 24 Stunden entlasten können (siehe Tabelle 3).

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5 Folgerungen und Empfehlungen

Die geplante Straße würde die Kernstadt Riedlingen entlasten, allerdings nur um etwa die Hälfte des in den Verkehrsgutachten dargelegten Umfangs.

Bei Förderungen im kommunalen Straßenbau muss der Verkehrsbedarf von der Bewilligungsstelle kritisch betrachtet werden. Dies umso mehr, wenn die Bauausgaben außerordentlich hoch sind. So hätten die Bauausgaben von 5,3 Mio. Euro je Kilometer Straße hinterfragt werden müssen, da diese erheblich über dem Durchschnittswert für Umfahrungen von 2,9 Mio. Euro je Kilometer Straße liegen.

Weder mit den zu hoch prognostizierten Daten der Verkehrsgutachten noch mit der vom Rechnungshof ermittelten Entlastungswirkung lässt sich begründen, dass die Fördermittel für die Kernstadtentlastungsstraße eingesetzt werden sollen.

Der Rechnungshof verkennt nicht, dass es verkehrlich notwendig ist, den höhengleichen Bahnübergang zu beseitigen (Bauabschnitt I). Die Planung der Bahnüberführung ist zu optimieren und damit kostengünstiger zu verwirklichen. Sie ist derzeit aufwendig geplant, um später die Bauabschnitte II und III anschließen zu können. Von der Bewilligung dieser beiden Bauabschnitte sollte abgesehen werden.

6 Stellungnahme des Ministeriums

Das Innenministerium führt aus, dass die Förderfähigkeit des Vorhabens eingehend geprüft worden sei. Dabei seien die Verkehrsuntersuchungen einbezogen worden, die ein renommiertes Ingenieurbüro erstellt habe. Die in den Gutachten prognostizierten Verkehrszunahmen würden von der Straßenbauverwaltung angesichts der Bevölkerungsvorausrechnung sowie der Flächennutzungs- und Siedlungsplanung der Stadt für plausibel gehalten. Dies treffe auch auf die ermittelte Entlastungswirkung zu. Dieser liege im Gegensatz zur vereinfachten Verkehrsumlegung des Rechnungshofs ein interaktives Gesamtverkehrsmodell zugrunde. Das Ministerium sieht es deshalb als geboten an, die Kernstadtentlastungsstraße zu fördern, wenn die rechtlichen Voraussetzungen vorliegen.

Im Übrigen betrachte es die Entlastungsstraße und die Beseitigung des höhengleichen Bahnübergangs als ein Projekt. Aktuelle Planungsüberlegungen des Landes hätten aber gezeigt, dass die Bahnüberführung in Teilen einfacher mit dem bestehenden Straßennetz verknüpft werden könne.

7 Schlussbemerkung

Die vom Rechnungshof festgestellte geringere Entlastungswirkung der neuen Umgehungsstraße ist weniger durch das Verkehrsmodell begründet, sondern vielmehr auf abweichende Eingangsgrößen (Strukturdaten, Verkehrsbelastung der Kernstadt) zurückzuführen, die in den Verkehrsgutachten deutlich zu hoch sind.

Bei vielen Kommunen besteht der Wunsch, die Ortskerne durch Umfahrungen zu entlasten. Das Land als Zuwendungsgeber hat bei solchen Vorhaben darauf zu achten, dass der verkehrliche Bedarf tatsächlich gegeben ist und die zu fördernden Vorhaben priorisiert werden.

Dies hat der Landtag in seinem Beschluss zur Denkschrift 2007, Beitrag Nr. 15, Finanzierung der Ortsumfahrungen im Straßenbau (Drucksache 14/1994, Seite 48) unterstrichen. Er forderte, „auf eine konsequente Bedarfsorientierung und auf ein angemessenes Kosten-Nutzen-Verhältnis zu achten“.