Die gesetzliche Neuregelung der sog. 630-DM-Arbeitsverhältnisse traf die Verwaltung unvorbereitet und führte dort anfangs zu chaotischen Verhältnissen. Die Umsetzung des neuen Rechts bindet landesweit mindestens 30 Arbeitskräfte auf Dauer, die nicht mehr für die Bearbeitung von Steuererklärungen zur Verfügung stehen.
1 Ausgangslage
Mit Wirkung vom 01.04.1999 ist das „Gesetz zur Neuregelung geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse“ vom 24.03.1999 in Kraft getreten. Mit diesem Gesetz sollen u.a. die Einnahmen der beitragsfinanzierten Sozialversicherungen erhöht, die Ausweitung von Beschäftigungsverhältnissen so genannter Aushilfen eingeschränkt, sowie Ausweichreaktionen in den Bereich der Schwarzarbeit oder ein weiteres Aufteilen der normalen Beschäftigungsverhältnisse verhindert werden.
Nach der bisherigen Rechtslage konnten die Einnahmen aus geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen nur nach der Lohnsteuerkarte oder im Wege der Pauschalierung besteuert werden. Nach der Neuregelung besteht daneben noch die Möglichkeit der Steuerfreistellung dieser Einnahmen. Voraussetzung hierfür ist, dass für das Arbeitsentgelt aus der geringfügigen Beschäftigung für den jeweiligen Lohnzahlungszeitraum die pauschalen Rentenversicherungsbeiträge von 12 % vom Arbeitgeber entrichtet werden und die Summe der anderen Einkünfte des Arbeitnehmers im laufenden Kalenderjahr nicht positiv ist. Für die Frage, ob ein geringfügiges Beschäftigungsverhältnis in diesem Sinne vorliegt, knüpft das Steuerrecht zwingend an das Sozialversicherungsrecht an. Der Arbeitgeber darf das Arbeitsentgelt aus geringfügiger Beschäftigung allerdings nur dann steuerfrei ausbezahlen, wenn ihm vom Arbeitnehmer eine sog. Freistellungsbescheinigung des Finanzamtes vorgelegt wird. Diese Bescheinigung kann vom Arbeitnehmer auf einem amtlich vorgeschriebenen Vordruck bei dessen Wohnsitzfinanzamt beantragt werden. Im Rahmen einer Veranlagung ist eine nachträgliche Freistellung des Arbeitslohns ebenfalls möglich.
Sofern für den geringfügig Beschäftigten eine Freistellungsbescheinigung ausgestellt wurde und die Summe der anderen Einkünfte dennoch positiv ist, ist eine Pflichtveranlagung durchzuführen. In diesem Fall ist der Arbeitnehmer verpflichtet, eine Steuererklärung beim Finanzamt abzugeben.
2 Prüfungsanlass, Prüfungsumfang
Das innerhalb weniger Tage in Kraft getretene Gesetz, das ausschließlich außersteuerliche Ziele verfolgt, hat die Verwaltung unvorbereitet getroffen. Um die konkreten Auswirkungen dieser Neuregelung zu untersuchen, wurden vom RH bei vier Finanzämtern örtliche Erhebungen durchgeführt.
3 Feststellungen
3.1 Schwierigkeiten bei Inkrafttreten der Neuregelung
3.1.1 Da weder die Finanzverwaltung noch die Steuerbürger auf die Umsetzung dieses Gesetzes vorbereitet waren, kam es zu erheblichen Anlaufschwierigkeiten. So standen den Finanzämtern anfangs lediglich Muster der Antragsformulare zur Verfügung, die in den ersten Wochen tausendfach kopiert werden mussten. Auf Grund der zahllosen Anfragen und Anträge kam es gerade in der Anfangszeit zu teilweise chaotischen Verhältnissen in den Finanzämtern.
3.1.2 Des Weiteren führte die verspätete Einführung der DV-Unterstützung für die Bearbeitung der Freistellungsanträge zu erheblichen Schwierigkeiten. Obwohl gerade solche einfach gelagerten Massenverfahren für den Einsatz einer DV-Unterstützung besonders geeignet sind, mussten bis zum 30.09.1999 landesweit mindestens 470.000 Anträge manuell bearbeitet werden. Danach mussten die gesamten Fälle per Hand im DV-System nacherfasst werden, um bei späteren ESt-Veranlagungen entsprechende Abgleiche durchführen zu können.
3.2 Anhaltende Arbeitsbelastung
3.2.1 Die meisten geringfügig Beschäftigten machen von der Neuregelung der Steuerbefreiungsvorschrift Gebrauch. Im Gegensatz zu der Pauschalbesteuerung durch den Arbeitgeber verursacht die Umsetzung der Neuregelung einen erheblichen Arbeitsaufwand, den die Finanzämter zusätzlich zu bewältigen haben.
3.2.2 Die Anzahl der von den Finanzämtern zu bearbeitenden Freistellungsanträge ist im Zeitraum von 1999 bis 2000 um 57.000 auf rd. 527.000 angestiegen. Auf der Basis der Fallzahlen des Jahres 2000 beläuft sich der dauerhafte Personalbedarf für diese Tätigkeit auf rd. 22 Stellen.
3.2.3 Im Rahmen der ESt-Veranlagungen haben die Finanzämter zu überprüfen, ob die Voraussetzungen für die Steuerfreistellung auch tatsächlich bestanden haben oder ob ggf. eine Nachversteuerung durchzuführen ist. Bis August 2001 wurden auf diese Weise rd. 191.000 ESt-Fälle des Veranlagungszeitraums 1999 überprüft und davon bei rd. 32.000 Fällen Nachversteuerungen durchgeführt. Der dauerhafte Personalbedarf für diese „Veranlagungsprüfungen“ beträgt rd. 7 Personalstellen.
3.2.4 Die nachträgliche Freistellung des Arbeitslohns aus einem geringfügigen Beschäftigungsverhältnis im Veranlagungsverfahren führt ebenfalls zu einer nicht unerheblichen zusätzlichen Arbeitsbelastung der Finanzämter, die aber betragsmäßig nicht ermittelt werden konnte.
3.2.5 Wie ausgeführt (s. Pkt. 3.2.1), ist für die geringfügig Beschäftigten, denen eine Freistellungsbescheinigung ausgestellt wurde, und deren andere Einkünfte nach Ablauf des Kalenderjahres dennoch positiv sind, eine Pflichtveranlagung durchzuführen. Zur Überwachung der Freistellungsanträge wegen des Pflichtveranlagungs-Tatbestands wurde ein besonderes Überwachungsverfahren eingerichtet (FM-Erlass vom 07.10.1999). Auf Grund mangelnder DV-Unterstützung sind bei der Fallüberwachung personalintensive Arbeiten zu bewältigen (s. Pkt. 3.3.2).
3.2.6 Von dem Freistellungsverfahren sind auch solche Personen ausgeschlossen, die andere positive Einkünfte erzielen, bei denen aber wegen des Grundfreibetrages sowie anderer Steuerfreibeträge keine ESt-Schuld entsteht (z.B. Rentner, Schüler, Studenten). Die Betroffenen zeigten für diese Regelung - trotz zeitaufwendiger Informationen durch die Finanzämter - regelmäßig kein Verständnis.
3.2.7 Nach § 3 Nr. 39 EStG sind für die Beurteilung, ob ein geringfügiges Beschäftigungsverhältnis vorliegt, sozialversicherungsrechtliche Vorschriften maßgebend. Diese Vorschriften des Sozialversicherungsrechts mussten sich insbesondere die Lohnsteueraußenprüfer zunächst einmal selbst aneignen.
3.2.8 Der Prüfungsaufwand der Lohnsteueraußenprüfung kann je nach Anzahl der freigestellten Beschäftigungsverhältnisse doppelt so hoch sein wie nach der bisherigen Rechtslage. Ursache hierfür sind die häufig unvollständig geführten Lohnkonten, aus denen nicht eindeutig hervorgeht, ob die Voraussetzungen für eine Freistellung vorliegen. In solchen Fällen sind von den Prüfern oftmals aufwändige Ermittlungen bei den Wohnsitzfinanzämtern der Arbeitnehmer durchzuführen. Die diesbezüglich getroffenen Feststellungen führen jedoch größtenteils zu keinen Mehrsteuern.
3.2.9 Über die höhere Arbeitsbelastung der Finanzämter auf Grund von Anfragen der betroffenen Arbeitnehmer sowie insbesondere der „kleineren“ Arbeitgeber gibt es zwar keine statistischen Nachweise; gleichwohl darf auch diese zusätzliche Belastung nicht verkannt werden.
3.3 DV-Unterstützung
3.3.1 Die DV-Unterstützung für die Erteilung der Freistellungsbescheinigungen wurde erst Ende des Jahres 1999 eingeführt (s. 3.1.2). Die Bearbeitung der Freistellungsanträge erfolgt im Rahmen des ESt-Dialogverfahrens „EVA 2.0“ (sog. 630-DM-Verfahren). Mittlerweile besteht auch die Möglichkeit das „630-DM-Verfahren“ unabhängig vom Einsatz des ESt-Dialogverfahrens „EVA 2.0“ finanzamtsintern einzusetzen. Von dieser Möglichkeit wurde zum Zeitpunkt der örtlichen Erhebungen aber nur von einem der untersuchten Finanzämter Gebrauch gemacht.
3.3.2 Soweit in bestimmten Fällen, wie z.B. bei Arbeitnehmern keine automatische Überwachung des Erklärungseingangs erfolgt, wurde zur Überwachung der Freistellungsanträge ein besonderes Verfahren eingeführt. Dabei sind nach Zufallskriterien ausgewählte Antragsteller zur Abgabe einer ESt-Erklärung aufzufordern. Für diese Fallauswahl existiert keine DV-Unterstützung; die notwendigen Überwachungsvermerke können nicht maschinell überwacht werden.
3.3.3 Fehlerhafte Erfassungen von Freistellungsbescheinigungen führen insbesondere bei der Ausstellung von Zweitbescheinigungen dazu, dass wichtige Informationen für spätere ESt-Veranlagungen nicht mehr zur Verfügung stehen. Gleichwohl ist ein entsprechender Hinweis auf typische DV-Bedienungsfehler gegenüber den Bediensteten bisher nicht erfolgt.
4 Bewertung und Empfehlungen
4.1 Die Prüfungsfeststellungen verdeutlichen die negativen Auswirkungen der sowohl für die Verwaltung, als auch für die Steuerbürger völlig unvorbereiteten Umsetzung der gesetzlichen Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse.
4.2 Das Verfahren der Steuerfreistellung sowie der nachgelagerten materiell-rechtlichen Überprüfung hat zu einer bezifferbaren zusätzlichen Arbeitsbelastung der Finanzämter geführt, die landesweit dauerhaft rd. 30 Stellen beansprucht. Die erhebliche und ebenfalls dauerhafte Mehrbelastung durch Anfragen Betroffener, die bisher statistisch nicht erfasst wurde, aber nicht unterschätzt werden darf, ist hierin nicht enthalten.
4.3 Die DV-Unterstützung sollte optimiert werden. Sämtliche Überwachungsfälle (s. 3.3.2) sollten in das System der maschinellen Überwachung des Erklärungseingangs („MÜST-Verfahren“) automatisch eingebunden werden. Des Weiteren sollte die Auswahl dieser Fälle DV-technisch unterstützt werden, um die Arbeitsabläufe zu rationalisieren.
4.4 Die Bediensteten sollten allgemein auf typische Bedienungsfehler des „630-DM-Verfahrens“ hingewiesen sowie umfassend geschult werden.
5 Stellungnahme des Ministeriums
Das FM hat keine Einwendungen gegen den Beitrag erhoben. Es beabsichtigt, der Empfehlung des RH zu folgen und die Bediensteten bei künftigen Schulungen auf typische DV-Bedienungsfehler hinzuweisen.